Der Orgel-Anbau am Westgiebel der St. Katharinenkirche Kesselsdorf 1878

Autor: Egbert Steuer

George Bähr hatte 1724 beim Kirchenneubau die Orgel an der Ostseite über den Altar verlegt. Im Zuge der notwendigen Erneuerung wurde die neue Orgel 1878 auf der Westseite der Kirche konzipiert. Dies erforderte den Rückbau der zweiten Empore an dieser Stelle sowie einen auf – wendigen Anbau über dem Eingangsbereich um die von der Bautzener Firma Eule gelieferte Orgel und Blasebalganlage unterzubringen. Hierbei wurden beiderseits Treppentürme, zur 1. Empore führend, angefügt. An Chr. Klengels Radierung von 1782 ist erkennbar, daß Bähr an den gleichen Stellen schon Außentreppen angelegt haben muß. (siehe Kesselsdorfer Heimatkunde, Nr. 16, Dezember 2010, Wolfgang Baetz: „Neue Orgel – neuer Anbau 1878“).

Mit der Errichtung des Anbaus wurde Gotthilf Ludwig Möckel (1838-1915) beauftragt. In Zwickau geboren und nach einer Maurerlehre in diesem Beruf tätig, entwickelte er sich als Zeichner, Konstrukteur und Bauleiter bis zum Studium an der Polytechnischen Schule in Hannover. Nach Zunahme von Aufträgen aus dem Dresdner Bereich übersiedelte Möckel 1877 nach Dresden, wo er eine eigene Villa errichtete. In diese Zeit fällt auch der Kesselsdorfer Auftrag. Die aus Mecklenburg eintreffenden Aufträge und die umfangreichen Arbeiten am Doberaner Münster veranlassten Möckel, 1885 nach dorthin umzusiedeln. 1889 trat er in den Staatsdienst ein mit der Berufung zum Baurat für Kirchen-Bauten, ab 1900 war er Geheimer Hofbaurat. 1915 starb er in Doberan.

Im zu damaliger Zeit bevorzugten Neogotischen Backsteinbaustil erfüllte Möckel diese Kesselsdorfer Aufgabe; ob dabei der Anbau mit Bährs Barockstil vorteilhaft korrespondiert, kann man geteilter Auffassung sein. Der Einsatz von Eisen als Gestaltungs- und Bauelement vermittelt jedoch eine interessante Wirkung. Ausgeführt wurde der Anbau vor dem Kirchenhaupteingang, im unteren Bereich ein Portikus mit 4 offenen Rundbögen aus Sandsteinquadern, in Längsrichtung durch eine Eisenrundstange (Durchmesser 4,5 cm, Länge 6,70 m) verbunden, an beiden Enden, südlich und nördlich, mit jeweils zwei schmiedeeisernen Zahlen der Jahresangabe 1878 (30 cm H. / 25 cm Br.) versehen und zwei mächtigen Muttern (Durchmesser 9 cm) verschraubt. Inmitten der Westwand, die keinerlei Fensteröffnung aufweist, ist ein rundes Sandsteinrelief (ca. 1 m im Durchmesser) mit der Darstellung eines Lamms angebracht. Als Osterlamm, gekennzeichnet mit der Siegesfahne, stellt es im Christentum ein Symbol für die Auferstehung Jesu Christi dar. Gearbeitet wurde das Relief vom Bildhauer-Atelier L. A. Schreiber Dresden – Löbtau.

Das einzige Fenster des Anbaues in neogotischer Gestaltung befindet sich in der Südwand. Im Verlauf der Renovierung wurde 2002 das Ziegeldach der letzten Jahrzehnte beseitigt und die frühere Schiefereindeckung sowie das Mansardentürmchen aufgesetzt. Über ihm ragt wieder das

schon vordem dort befindliche schmiedeeiserne verzierte Kreuz als Turmbekrönung, hergestellt 1887 von der Dresdener Bau- u. Kunst – Schlosserei August Kühn Scherf. Zur Erhaltung der vermutlich schon von Bähr errichteten Außentreppen zu den Emporen baute Möckel beiderseits Treppentürme mit Spitzdach und neogotischem Fenster in Erdgeschosshöhe an. Bereits in Höhe der 1. Etage (3 m bis Sims) beginnen die gleichfalls mit Schiefer eingedeckten Dächer; die eisernen Dachrinnenhalter sind in ganz besonders wirkungsvoller antiker Form gefertigt. 

Im Kirchenarchiv von St. Katharinen sind Dokumente über den aufwendigen Anbau an der Westseite erhalten, u.a. die von Möckel und dem Baumeister Bartsch in Auftrag gegebenen Zuarbeiten für die schmiedeeisernen und die Steinmetz- Anfertigungen.

Was die Innengestaltung des neuen Anbaus betraf, musste mit Öffnung zum Kircheninneren und zur ersten Empore die neue Orgel eingebaut werden. Der Spieltisch mit der Klaviatur, 11 dem Manual, und beiderseitig angebrachter Registratur schließt den neuen Raum zum Kircheninneren ab und kann mittels einer Rollwand abgetrennt werden. Dahinter erfolgte der Einbau der technischen Anlagen, der nach außen sichtbaren Orgelpfeifen, sowie dem weiteren unsichtbaren Tonerzeugungssystem mit den Bälgetretanlagen zur Erzeugung der Luft für den Spieltisch (siehe Kesselsdorfer Heimatkunde, Nr. 18, Dezember 2011, Renate Dauterstedt: „Die Eule-Orgel in der St. Katharinenkirche Kesselsdorf“).

Noch lange Jahre nach ihrer Herstellung musste die Kesselsdorfer Orgel durch menschliche Kraft betrieben werden. Um das zu bewerkstelligen wurden Schüler der oberen Klassen vom Kantor, der hierorts ja gleichzeitig der Dorflehrer war, eingewiesen. Ihre Tätigkeit im örtlichen Musikbetrieb war nicht unbedeutend, denn das gleichmäßige und genaueste Treten des Bälgemechanismus musste exakt betrieben werden, ansonsten ging dem Herrn Kantor vorn am Spieltisch die Luft aus. Köstlich beschreibt das Johannes Gilshoff in seiner Kurzerzählung „Der alte und der neue Glaube“ (Verlag C. Bertelsmann, 1937). Hier eine Probe daraus:

„In der neuen Kirche haben wir auch eine neue Orgel. Die alte quiekte zu sehr. Die heulte immer noch, wenn der Pastor schon lange auf der Kanzel stand. Der neue Lehrer hatte den richtigen Handschlag und kannte sich gleich aus auf ihr. Bloß er konnte sich nicht recht stellen mit unserm alten Windmacher. Das war ein stiller Mann und stand hinter der Orgel. Da passte er auf, daß ihr die Puste nicht ausging. So war er ein Handlanger an Gottes Wort und Lobgesang und rechnete sich stark zur Geistlichkeit. Er sprach: „Die Orgel geht noch ganz gut, aber sie ist verkehrt aufgeschlagen. Nach vorn gehöre ich hin, denn ich bin das Haupt. Wenn ich keinen Wind mache, kann der Schulmeister nicht orgeln, und wenn der Schulmeister nicht orgelt, kann der Priester nicht predigen.“

Weil er nun schon so viele Jahre mit dem Windkasten seine Hantierung hatte, darum hatte er es gründlich rausgekriegt, wie oft er am Sonntag bei den Liedern zutreten musste; denn er war ein scharfer Rechner. Der neue Lehrer bracht aber nun in der heiligen Musik viele Schwänze an, vorn und hinten und in der Mitte auch noch, und da war der Krach zwischen vorn und hinten fertig. Die Schwänze waren man ja kurz; aber wenn ich viele kleine Enden Bindfaden zusammenbinde, dann gibt es doch ein langes Ende, und darauf war der alte Windmacher nicht einstudiert. Er musste nun viel öfter zutreten als sonst. 

Es kam einmal ein Sonntag und da war der Glaube angesteckt. Der Alte wusste ganz genau, wie oft er zutreten musste. Aber der neue Orgelmann wollte Ehre einlegen vor Gott und Menschen. Darum zog alle Register und setzte viele Schwänze an. Aber nicht lange tat er das, denn hinten der Windmacher zählte nach dem alten Glauben, und als er 165 mal zugetreten hatte, da war sein Glaube zu Ende, und dem neuen Glauben da vorn ging die Puste aus, und das mitten im dritten Vers. Er konnte nicht weiter. Er lief rum um die Orgel, er fing an zu schelten. Aber der alte Windmacher wurde zornig und sprach: „Ich weiß wieviel Wind zum Glauben gehört: 165 Schlag. Für das Amen gebe ich 5 zu, das macht 170 Schlag. Aber Sie brauchen aufs wenigste 250. Registern sie man nicht so toll drauf los, als wenn der Wind kein Geld kostete und lassen Sie man die weltlichen Schwänze raus aus den heiligen Liedern. Mehr Wind kann ich Ihnen für Ihren Glauben nicht liefern, wo mein Einkommen so gering ist.“ Dann machten sie einen Akkord. Der da vorn ließ 50 Schlag ab, der hinten legte zu, aber bloß 30 Schlag, das Amen eingerechnet. So einigten sie sich auf 200 Schlag für den Glauben – und wir sangen den dritten Vers noch mal von vorn. Aber dem Orgelmann haben wir nachher gesagt, in der Kirche brauche er nicht so bunt zu spielen. Da wollten wir Gott man lieber auf die alte Weise loben. So hat er es denn auch gehalten und sich ganz gut bei uns eingelebt, denn er war ein vernünftiger Mensch.“

Ob sich um 1900 in der St. Katharinenkirche Kesselsdorf solche oder ähnliche Episoden abgespielt haben, wissen wir nicht und Überlieferungen sind nicht vorhanden. Aber Überlieferungen der bälgetretenden Schüler der damaligen Zeit sind heute noch an den Wänden im Bälgeraum zu finden. Einige von den Jungen hat der Autor noch als Erwachsene kennen gelernt. Doch dann war es mit der menschlichen „Windmaschine“ vorbei, denn 1936 bekam die Kesselsdorfer Eule-Orgel ein elektrisches Gebläse und Kantor Oscar Fichtner (seit 1909 hier im Amt) benötigte keine Gehilfen mehr beim Gottesdienst.

Klengels Radierung vom Kesselsdorfer Friedhof 1782 , links der Kircheneingang